Phillipp August Becker, "Der planctus auf den Normannenherzog Wilhelm Langschwert (942)," Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 63 (1939): 190-97.

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Wilhelm, der zweite Normannenherzog mit dem Beinamen Langschmert, war der Sohn des Wikingerführers Rollo und einer Christin Poppa, die diesem bei der P1ünderung von Bayeux, zwischen 890 und 893, als Beute zugefallen war. Ihr Vater Berengar mar anscheinend der Graf der Stadt und hatte bei ihrer Einnahme dien Tod gefunden; er war mit dem Grafen Bernhard von Senlis nah verwandt. Rollo nahm Poppa, wohl als sie in das Heiratsalter kam, more danico zur Fiau und erhielt von ihr eina Tochter Gerloch, die 935 den Grafen Wilhelm Wergkopf von Poitou heiratete, und einen Sohn, unseren Wilhelm, der nach Dudos Leugnis in Rouen geboren wurde. 911 vermählte sich Rollo, der das Christentum annahm, mit Gisela, der Tochter Karls des Einfältigen und seiner ersten Gemahlin Frederuna, obwohl Poppa noch lebte; sie war ihm aber nicht kirchlich angetraut.

Wilhelm war von einem vornehmen Normannen Botho kriegerisch und fromm erzogen worden und zu einem Jüngiing von hoher Gestalt herangewachsen, als die Normannen seinem alternden Vater nahelegten, seinen Sohn zur Mitarbeit heranzuziehen. Rollo war es zufrieden und Wilhelm empfing die Huldigungen der Normannen. Es geschah dies im Jahr 927, in dem es dem Grafen Herbert von Vermandois beifiel, den abgesetzten und in Péronne internierten König Karl wieder freizugebn und auf den Thron zurückzuführen. Die fünf Jahre der gemeinschaftlichen. Regierung Rollos und Wilhelms scheinen ohne nennenswerte Ereignisse verlaufen zu sein. Karl der. Einfältige verschied am 7. Oktober 929, und Rudolf von Burgund verblieb im Alleinbesitz der französischen Krone. Wilhelm leistete ihm 933 die Huldigung.

Der alte Rollo schloß 931 die Augen. Die erste selbständige Aufgabe, die Wilhelm zufiel, war die Niederschlagung verschiedener Aufstandsbewegungen in seinem eignen Herrschaftsbereich. Zuerst versuchten die Bretonen der Cornouaille unter Berengar und Alanus sich unabhängig zu machen. Wilhelm verwüstete ihr Land, und als sie ihm bei

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Beinem Rückzug bis Bayeux folgten, schlug er sie; mit Berengar söhnte er sich aus, Alanus flüchtete nach England. Bei seiner Huidigung bestätigte König Rudolf dem Norman nenherzog den Besitz der bretonischen Wascerkante. Auf Wunsch seiner Barone nahm Wilhelm eine Bretonin namens Sprota, vermutlich auch eine Kriegsbeute, zur Frau, auch nur more danico; sie wurde die Mutter Richards I. und Rudolfs von Ivry, aus dessen Mund Dudo von Saint-Quentin vielen Stoff für seine Normannenchronik erhielt.

Weit gefährlicher drohte der Aufs tand der noch dem Heidentum ergebenen Normannen auf Anstiftung Riulfs, des Grafen von Evreux, zu werden. Wilhelm schwankte einen Augenblick, ob er sich nicht bei seinem Onkel in Senlis in Sicherheit bringen sollte; aber ein alter Däne namens Bernhard redete es ihm aus und feuerte ihn zur Tat an. Der Erfolg gab ihm recht; Wilhelm griff mit 300 wohlausgerüsteten Reitern die Aufständigen an und zerstreute sie in alle Winde. Riulf konnte sich im Dickicht der Waldungen verbergen. Nach diesem Sieg verband sich Wilhelm mit Hugo von Francien und Herbert von Vermandois, die zur Zeit nicht in Fehde miteinander lagen. Er empfing sie beide 935 festlich in Lions-la-Forest, wo die Vermählung seiner Schwester mit Wilhelm von Poitou verabredet wurde und er sich selber mit Leutgardis, der Tochter Herberts, verloben ließ, die noch ein Kind war. Sie wurde nach Rouen gebracht una dort erzogen; ob es später zur Vollziehung, der Ehe kam, weiß man nicht. Leutgard, deren Ältere Schwester Adelheid mit Arnulf von Flandern vermählt war, heiratete als Witwe den Grafen Theobald von Chartres.

Als Kudolf von Burgund, der die Krone des Westfrankenreichs trug, am 14.Januar 936 starb, hielt es Hugo der Große von Francien für klüger, nicht selber nach der Krone zu trachten, sondern lieber den hinterlassenen Sohn Karls des Einfältigen, Ludwig den Oberseeischen, der in England heranwuchs, zurückzurufen. Auch Wilhelm wurde für des sen Sache gewonnen. Wenn aber Hugo gehofft hatte, den jungen König nach seinem Belieben zu lenken, sah er sich bald getäuscht. Ludwig entzog Jich seiner Vormundschaft und ließ seine Mutter Eadgifa aus England herüberkommen. Hugo verband sich nun enger mit Herbert von Vermandois und gewann eine noch kräftigere Stütze an Otto I., dessen Schwester Hedwig er heirabete. Ottos Politik lief zunächst darauf hinaus, die beiden Parteien, eine durch die andere, in Schach zu halten. Als aber Ludwig 939, beim erneuten Aufstand Eberhards von Franken im Bund mit Ottos jüngeren Bruder Heinrich und mit Giselbert von Lothringen,

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diese unterstützte und Einfluß in Lothringen zu gewinnen suchte, Lehrte sich Otto gegen ihn, riickte 940 in Frank reich ein, empfing auf dem Hoftag von Attigny die Huldi gung von Hugo und Herbert und zeigte sich in der Nähe von Paris. Dies führte Ludwig und Wilhelm einander näher. 941 hob Wilhelm Ludwigs Erstgeborenen Lothar aus seiner Ehe mit Gerberga, Ottos Schwester und Witwe des in der Schlacht bei Birten gefallenen Giaelbert von Lothringen, aus der Taufe. 962 empfing er den König in Rouen und vermittelte eine Zusammenkunft zwischen ihm und König Otto an der Maas, bei der Herbert von Vermandois nicht erschien und Hugo von Francien keinen guten Willen zeigte. Von diesem Zeitpunkt an begann man nach Dudo Dusteres gegen Wilhelm zu planen.

Vor wenigen Jahren hatte sich Arnulf von Flandern, der Alte, durch einen Handstreich der Stadt Montreuil-sur-Mer bemächtigt. Der vertriebene Graf Heluin suchte vergebens Unterstützung bei seinem Lehnsherrn, Hugo von Francien; mehr Entgegenkommen zeigte Wilhelm, mit seiner Hilfe gelangte er wieder in seinen Besitz und huldigte ihm dafür. Diese Angelegenheit nahm nun Arnulf zum Anlaß, um Wilhelm zu einer Besprechung einzuladen. Sie trafen sich am 17.Dezember 942 auf einer Insel der Somme bei Picquigny, wo die Straße von Amiens nach Abbeville den Fluß überquert. Die Verhandlung verlief in freundschaftlichem Ton, ohne zu einem Ergebnis zu führen. Man trennte sich vor Sonnenuntergang. Als Wilhelm im Boot über den Fluß setzte, riefen ihn die Leute Arnulfs, der sich bereits entfernt hatte, zuriick, um ihm noch eine wichtige Mitteilung zu machen. Beim Landen wurde er aber uberfallen und niedergemacht. Dudo gibt die Namen der Mörder, Heinrich, Balzo, Robert und Riulf. Wilhelms Leiche wurde nach Rouen gebracht und im linken Seitenschiff des Frauenmünsters beigesetzt, wo das Grabdenkmal noch zu sehen ist. Sein Sohn Richard war keine zehn Jahre alt.

Wilhelm hinterließ auch eine fromme Stiftung, die von ihm wieder erbaute Abtei Jumièges südlich von Rouen am linken Seineufer, auf der oberen, west-östlich gerichteten Strecke der großen Flußschleife, deren nördlichster Punkt Rouen ist. Beraten wurde er bei dem Werk durch den Abt Martin des Sankt-Cyprianklosters in Poitiers, den ihm seine Schwester Gerloch zu dem Zweck geschickt hatte. Man erzählte, daß es sein alter Wunsch war, sich in dieses Kloster zurückzuziehen. In Jumièges bewahrte man dem Wiedererbauer natürlich ein dankbares Andenken; hier wird auch der Planctus entstanden sein, der offenbar dazu bestimmt

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war, sein Gedächtnis als das eines unschuldigen Märtyren lebendig zu erhalten, mit dem Hintergedanken, auf diese Weise auf eine Seligsprechung hinzuarbeiten.

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Der Text unseres Planctus ist uns in zwei Handschriften, aber in beiden in einem elenden Zustand erhalten. Er wurde zuerst von G. Paris in der Hs. 189 der Bibliothek von Clermont-Ferrand entdeckt, die auch die Passion und den Leodegar als jüngeren Eintrag enthält. G. Paris stellte seinen Fund dem Herausgeber Dudos von Saint-Quentin, J. Lair, zur Verfügung, der ihn 1870 in der Bibliothèque de l'École des chartes Bd. XXXI S. 359 ff. veröffentlichte. Später fand L. Delisle die andere Abschrift in einer Handschrift der Laurenziana in Florenz, ms. Libri 83, und Lair gab in seiner Etude sur la vie et la mort de Guillaume Longue-Epée. Paris 1893, eine verbesserte Ausgabe mit Faksimiles. Einen neuen Abdruck mit weiteren Korrekturen lieferte Ph. Lauer in seinem Buch Le regne de Louis IV d'Outremer. Paris 1900, Pièce justificative III (Bibliothèque de l'école des hautes etudes, sc. hist. et phil. 127). Trotzdem scheint der Versuch einer durchgreifenden Wiederherstellung des arg mißhandelten Textes nicht überfliissig und nicht aussichtslos. Ohne Kühnheit geht es natürlich nicht ab, und manches bleibt selbstredend zweifelhaft; das erzielte Ergebnis allein kann die Eingriffe rechtfertigen. — Aufgebaut ist der Planctus aus lauter glatten und saubern trochäischen Dipodien, die selten ineinander übergreifen; jede Strophe — mit Ausnahme zweier nicht zur Haupterzählung gehörender Zusatzstrophen — besteht aus drei Trimetern und einem Dimeter und schließt mit einem Tetrameter als Refrain (33324). Die Bssonanzen sind frei und mit feinem Verständnis verteilt, bald als Endreim, bald auch als Binnenreim (besonders un Refrain). — Wie sich herausstellt, beherrschte der Verfasser die lateinische Sprache und die Verstechnik tadellos im Sinne seiner Zeit; man darf ihm die Fehler seiner über alles Maß unbeholfenen Abschreiber nicht in die Schuhe schieben.